„daß wir uns sehen in Italien, uns umarmen können, zusammen trinken …“. Fotografie von Nicolas Born und Alfred Kolleritsch

veröffentlicht am 15. Oktober 2024 in Objekt des Monats

Fotografie von Nicolas Born (1937-1979) und Alfred Kolleritsch (1931-2020) anlässlich der Petrarca-Preisverleihung an Alfred Kolleritsch am 10. Juni 1978 in Siena, Italien. Fotobestand „Alfred Kolleritsch“ am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz (erworben 2021, Signatur: FNI-KOLLERITSCH-Sammlung Familie)

Im Archiv des Franz-Nabl-Instituts befindet sich im Teilnachlass von Alfred Kolleritsch neben Manuskripten, Typoskripten, Korrespondenzstücken, Notizbüchern, Notizblöcken und Schreibheften auch ein Konvolut von circa 1.000 Fotografien aus dem Familienbestand. Auf ihnen zu sehen sind u.a. mit Alfred Kolleritsch befreundete Autorinnen und Autoren, Szenen von Preisverleihungen, von Veranstaltungen des Forum Stadtparks und des steirischen herbstes, von manuskripte-Ausflügen und Gasthausessen, von Reisen nach Amerika und zu Petrarca-Preisverleihungen sowie zahlreiche Portraits des Verstorbenen selbst in unterschiedlichen Lebensabschnitten.

Eine Schwarzweißfotografie zeigt Alfred Kolleritsch gemeinsam mit dem deutschen Autor Nicolas Born. Sie entstand am Rande des von Hubert Burda gestifteten Petrarca-Preises[1], der am 10. Juni 1978 im Palazzo Pubblico von Siena an Alfred Kolleritsch verliehen wurde. Der handschriftliche Vermerk auf der Rückseite der Fotografie lautet: „Petrarca-Preis 1978 Nicola Born – Alfred Kolleritsch – Jürg Laederach Copyright R. P. Gruber Forum Stadtpark“. Der steirische Autorenkollege Reinhard P. Gruber war augenscheinlich gemeinsam mit Alfred Kolleritsch zur Preisverleihung angereist. Bemerkenswert ist, dass diese Fotografie in ihrer Ausdruckskraft den künstlerischen Aufnahmen der bekannten Fotografin Isolde Ohlbaum in nichts nachsteht. Vom Preisstifter Hubert Burda beauftragt, dokumentierte sie diverse Preisverleihungen fotografisch, so auch jene in Siena, wovon eine Reihe weiterer Aufnahmen im Konvolut des Teilnachlasses „Alfred Kolleritsch“ am Franz-Nabl-Institut zeugt.

Die vorliegende Fotografie besticht durch ihre Komposition, eine Mischung aus Starrheit und Leichtigkeit, aus gestelltem Portrait und spontanem Schnappschuss. Die beiden Autoren Kolleritsch und Born stehen dicht an dicht, je eine Hand ruht auf der Schulter des anderen, als ob sie sehr enge Freunde wären, und ein spontaner Gedanke kommt auf, was am Kontrast zwischen dem dunkel gekleideten Born und Kolleritsch im lichtweißen Hemd liegt sowie an einer kopfüberhängenden langstieligen Rose in Kolleritschs linker Hand: Es entzündet sich die Assoziation mit dem Bildnis eines frischvermählten Brautpaars und gerade an der Rose verstärkt sich beim Betrachten ein schmerzliches Gefühl ob der Vergänglichkeit (auch) der (eigenen) Existenz. „Von der gestrigen Rose bleibt nur der Name“ (Bernhard von Cluny um 1140). Beide Schriftsteller sind mittlerweile tot, wie auch der Schweizer Autor Jürg Laederach, der sich mit der Journalistin und Filmemacherin Birgitta Ashoff[2] (2. v. l.) und einer weiteren (unbekannten) Frau luftig und Trauzeugen gleich im Halbkreis um das „Paar“ gruppiert. Im Hintergrund sehen wir die verrußte Fassade des Palazzo Pubblico, Wahrzeichen an der zentralen Piazza del Campo in Siena. Es ist Sommer.

In der Jury des Petrarca-Preises saß 1978 neben Bazon Brock, Peter Handke, Michael Krüger und Urs Widmer auch Nicolas Born. Und gewissermaßen schließt sich ein Kreis, wenn man den von Borns Tochter 2007 herausgegebenen Briefe-Band zur Hand nimmt, und den einen darin abgedruckten Brief[3] von Nicolas Born an Alfred Kolleritsch liest, in welchem er ihm vom erfreulichen Ergebnis der Petrarca-Preis-Jurysitzung berichtet:

5.3.78

Lieber Fredi,

ich bin halt ein Schlamper, was das Briefeschreiben und einiges andere anbetrifft. Verzeih! Aber diesen späten Anlaß muß ich nun doch nutzen. Das war eine durchdringende, überzeugende, bei allen niedergedrückten Inhalten doch beglückende Lesung, die wir mit Deinen Gedichten hatten. Alles andere war vorher nahezu zu Staub zerfallen, so daß wir schon ganz mürrisch waren und am liebsten auseinandergereist wären. Dieser genaue, starke wie ruhige kontemplative Ton – wir waren wirklich glücklich nach der Lesung, und verwundert, daß wir so lange an Dir vorbeigegangen waren, ohne Deine Gedichte in der notwendigen Schärfe zu erkennen. Geschafft haben wir es buchstäblich im letzten Moment, und als die Lesung vorüber war, gab es zum erstenmal keine Diskussion mehr, nur noch Betroffenheit und stotternde kleine Echolaute auf die Konzentration und Würde (ja) solcher, Deiner, Poesie.
Also, ich freue mich, daß Du den Preis und das Geld bekommen wirst, daß wir uns sehen in Italien, uns umarmen können, zusammen trinken …
Machs gut bis dahin, und trag bitte Deinen Teil dazu bei, daß Dein Band möglichst frühzeitig erscheint,
Dein Nicolas

 

Die im Brief eingeforderte Umarmung ist auf der Fotografie aufs Schönste festgehalten.

Nicolas Born war, wie im Brief zum Ausdruck gebracht, derart angetan von den Gedichten, die rechtzeitig zur Preisverleihung unter dem Titel Einübung in das Vermeidbare (Residenz 1978) erschienen, dass er dazu eine (auch online nachlesbare) längere Besprechung[4] schrieb. Doch für welches Medium?
Aufschluss brachte eine Anfrage[5] im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wo der Teilnachlass „Alfred Kolleritsch“ (angekauft zwischen 2006 und 2020) liegt. In diesem Teilnachlass finden sich neben dem Originaltyposkript des oben zitierten Briefs noch zwei weitere Briefe von Nicolas Born an Alfred Kolleritsch, die 2007 nicht von Katharina Born in den Briefe-Band aufgenommen worden waren.
In einem davon schreibt Born am 15.7.1978 an Kolleritsch, dass er ihn an der „Darmstädter Akademie f. Sprache und Dichtung“ als korrespondierendes Mitglied vorgeschlagen habe und das nicht uneigennützig, da er ihn so einmal jährlich in Darmstadt treffen könne. Zudem schreibt er ihm, dass er mit dem WDR eine halbstündige Sendung verabredet habe mit einer 20-minütigen Lesung von Alfred Kolleritsch und dass seine Einführung in einer anderen Form auch in einer Zeitung erscheinen solle, wobei noch nicht feststünde, in welcher.
1979 wurde Alfred Kolleritsch tatsächlich korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Ob und wann genau aber die angekündigte Sendung im WDR ausgestrahlt und ob die Rezension der Gedichte in der Folge auch in einer Zeitung erschienen ist, konnte leider nicht eruiert werden.

Gewiss ist, dass die beiden Autoren einander schon vor der Petrarca-Preisverleihung gekannt und geschätzt haben. Im Frühling 1976 erschien in der 51. Ausgabe der von Kolleritsch herausgegebenen Literaturzeitschrift manuskripte unter dem Titel Radikale Ernte ein Beitrag von Nicolas Born. Eine Kopie des Originaltyposkripts samt handschriftlichen Streichungen und Annotationen findet sich in der Sammlung „manuskripte-Redaktionsarchiv“ ebenfalls im Archiv des Franz-Nabl-Instituts. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus Borns zweitem Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte (Rowohlt 1976), den er gerade fertigstellte und der gleich nach Erscheinen wegen seiner Radikalität für Aufsehen sorgte und vielfach besprochen wurde. Obwohl im September desselben Jahres das Haus von Nicolas Born in Langendorf mitsamt vielen seiner Bücher und Manuskripte abbrannte,[6] folgte er kurz darauf einer Einladung nach Graz, wo von 29. bis 30. Oktober im Forum Stadtpark, dessen Präsident Alfred Kolleritsch war, ein Literatursymposium unter dem Titel Selbsterfahrung des Autors stattfand und wo die beiden einander (vermutlich zum ersten Mal auch persönlich) trafen.

Nicht nur Alfred Kolleritsch war neben seinem eigenen Schreiben als Vermittler, Förderer und Verbreiter von Literatur aktiv, auch Nicolas Born engagierte sich durch die Herausgabe des Literaturmagazins[7] im Rowohlt Verlag, wovon auch der zweite aufgefundene Brief im Bestand des Literaturarchivs an der Österreichischen Nationalbibliothek zeugt. Am 12.1.1977 bittet Born Kolleritsch darin um einen Beitrag für das Literaturmagazin bis Ende Februar und darum, diese Bitte auch an Gerhard Roth (den er wohl beim Symposium in Graz kennengelernt hatte) weiterzugeben. Ob die beiden steirischen Autoren tatsächlich unter solchem Zeitdruck noch Texte an Born abgeschickt haben, ist ungewiss, zu einer Publikation im Literaturmagazin unter Borns Herausgeberschaft kam es jedenfalls nicht oder nicht mehr.

Anderthalb Jahre nachdem R. P. Gruber einen besonderen Moment inniger Verbundenheit zwischen den zwei Dichterkollegen Nicolas Born und Alfred Kolleritsch mit seiner Kamera für die Nachwelt festhielt, starb Nicolas Born im Dezember 1979 mit gerade einmal 42 Jahren an Lungenkrebs. Alfred Kolleritsch folgte ihm gute 40 Jahre später im Mai 2020 nach.

Heute erinnern zwei Literaturpreise an die beiden Dichter.
Von 1988 bis 1995 förderte Hubert Burda mit einem „Nicolas Born Preis“ junge Autorinnen und Autoren. Seit dem Jahr 2000 vergibt das Land Niedersachsen den „Nicolas-Born-Preis“ an herausragende deutschsprachige Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die Stadt Graz vergibt seit 2020 einen „Alfred-Kolleritsch-Würdigungspreis“ an Autorinnen und Autoren, Persönlichkeiten, Literaturinitiativen, Vereine oder Institutionen, die in ihrem literarischen Werk oder in ihrer Tätigkeit zur Vermittlung, Förderung und Verbreitung der zeitgenössischen Literatur herausragende Leistungen erbracht haben.

Im November 2024 wird der „Alfred-Kolleritsch-Würdigungspreis“ erneut verliehen. Die Preisverleihung des „Alfred-Kolleritsch-Würdigungspreises“ der Stadt Graz findet gemeinsam mit der Präsentation der aktuellen Ausgabe der manuskripte am Mittwoch, den 27. November 2024 im Literaturhaus Graz statt.

Elisabeth Loibner

 

[1] Vgl. dazu mein Objekt des Monats Februar 2020 DER TIEFE ATEM. Zeitungsausschnitt von Peter Handkes Petrarca-Preisrede auf Alfred Kolleritsch auf der Homepage des Franz-Nabl-Instituts.
[2] Danke an Sissi Tax für das Identifizieren von Birgitta Ashoff.
[3] Katharina Born (Hrsg): Nicolas Born: Briefe 1959-197. Göttingen: Wallstein 2007. (= Mainzer Reihe. Neue Folge. 5.) S. 232.
[4] In: Nicolas Born: Die Welt der Maschine. Aufsätze und Reden. Hrsg. von Rolf Haufs. Reinbek: Rowohlt 1980, S. 175-178 und in: Kurt Bartsch und Gerhard Melzer (Hrsg.): Alfred Kolleritsch. Graz: Droschl 1991. (= Dossier. 1.) S. 131-134; zudem online unter: https://www.planetlyrik.de/alfred-kolleritsch-einuebung-das-vermeidbare/2015/05/. Aufgerufen am: 1.10.2024.
[5] Danke an Martin Wedl, den Betreuer des Teilnachlasses von Alfred Kolleritsch an der OeNB.
[6] Vgl. Katharina Born: „Das nenne ich nicht Resignation“. Über die Arbeit an einer Ausgabe der Briefe von Nicolas Born. In: Text und Kritik (2006), H. 170 [Nicolas Born], S. 23-41, hier: S. 28.
[7]Vgl. den Index von Heft 1-42 des Literaturmagazins, erstellt von: Adam Siegel: https://escholarship.org/content/qt3c32v2rd/qt3c32v2rd_noSplash_8dcdc1a4b4ce2fa80b54c552115b3ae1.pdf?t=ora8j2. Aufgerufen am: 1.10.2024.